Page 15 - German Council Magazin 04.2019
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GERMAN COUNCIL . MOBILITÄT




         den  großen Städten  Europas,  Nordamerikas
         und Australiens in New York zur ersten Inter-
         nationalen Stadtplanungskonferenz der Ge-
         schichte versammeln, ist das  Treffen über-
         schattet von düsteren Visionen: Pferde sind in                                                             ©  Renato Granieri / Alamy Stock Photo
         dieser Zeit der Motor des urbanen Lebens. Sie
         ziehen die Straßenbahnen, die schwer belade-
         nen Wagen der Händler, die Droschken und
         die Kutschen der Reichen – und hinterlassen
         auf Schritt und Tritt ihren Kot. Allein in Man-
         hattan gibt es rund 100.000 Equidae, die täg-
         lich 1.200 Tonnen Mist auf die Straßenpflas-
         ter fallen lassen. »Die ganze Insel stinkt nach
         Verwesung«, beklagt George Waring, Direktor
         der Straßenreinigungsbehörde.

         Die Forscher plagen apokalyptische Gedan-
         ken: Der Pferdemist ist ein idealer Nährboden
         für Bakterien. Seuchen könnten sich bald aus-
         breiten und zur Flucht der Menschen aus den
         Städten führen. Die Wissenschaftler prognos-
         tizieren ein düsteres  Bild der  Zukunft:  Die
         Menschheit von Krankheiten dahingerafft, die
         letzten Überlebenden hausen in kleinen Dör-  Schneller als jeder Bus: Seilbahn in Boliviens Hauptstadt
         fern unter armseligen Bedingungen.

         Die düsteren Visionen werden nie Realität.   Strecke von Paddington im Westen quer   die in die Höllenregionen hineinwühlen und
         Zum einen lösen Verbrennungs- und Elektro-  durch die City nach Farrington im Osten. Un-  dadurch den Teufel stören.« Doch die Londo-
         motoren bald die Pferde als Zugtiere ab. Statt   terwegs halten die Züge an fünf Stationen.  ner nehmen die Bahn schnell an. Bereits kurz
         Kutschen rollen Autos über die Straßen. Zum                             nach der Eröffnung schreibt die Zeitung The
         anderen beginnen die Städte, Nahverkehrs-  Siemens entwickelt die erste U-Bahn  Times  – zuvor  auf  Seiten  der  Kritiker:  »Die
         systeme zu schaffen. Vorreiter ist London. In                           Metropolitan Railway ist ein Erfolg.« Und er-
         der britischen Hauptstadt wird bereits am 10.   Die Idee, Züge unter der Erde fahren zu las-  gänzt: »Sie kann als großer technischer Tri-
         Januar 1863 mit der »Metropolitan Railway«   sen, macht zunächst vielen Menschen Angst.   umph unserer Zeit betrachtet werden.«
         die erste Untergrundbahn der Welt eröffnet.   Der Priester John Cumming warnt: »Das be-
         Züge mit Dampflokomotiven verkehren in kur-  vorstehende Ende der Welt wird beschleunigt   Um die Jahrhundertwende folgen Unter-
         zer Taktfolge auf der sechs Kilometer langen   durch den Bau unterirdischer Eisenbahnen,   grund- und Hochbahnen in zahlreichen weite-
                                                                                 ren Metropolen. In Pest, dem östlich der Do-
                                                                                 nau gelegenen Stadtteil Budapests, wird am
                                                                                 2. Mai 1896 die erste elektrische U-Bahn ein-
        © FALKENSTEINFOTO / Alamy Stock Photo                                    Werner von Siemens. Gegenüber den von
                                                                                 geweiht – entwickelt vom deutschen Erfinder
                                                                                 Dampf- oder Elektrolokomotiven gezogenen
                                                                                 damaligen Straßenbahnen haben die neuen
                                                                                 U- und S-Bahnen einen wesentlichen Vorteil:
                                                                                 Sie verlaufen auf separaten  Trassen. Kein
                                                                                 Verkehrsstau stört ihr Vorankommen.

                                                                                 Einen anderen Weg schlagen die preußischen
                                                                                 Entscheidungsträger im Tal der Wupper ein.
                                                                                 Dort sind die Städte zum Ende des 19. Jahr-
                                                                                 hunderts zu einem riesigen Ballungszentrum
                                                                                 mit fast einer halben Million Bewohner zu-
                                                                                 sammengewachsen.  Häuser  stehen  eng  an
                                                                                 eng und so dicht an den Fahrwegen, dass
                                                                                 kein Platz für eine Straßenbahn bleibt. Der
         Die »Metropolitan Railway Station« wurde auf der Weltausstellung 1900 in Paris vorgestellt  hohe Grundwasserspiegel verhindert den Bau

                                                                                                        GCM 4 / 2019 13
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